Menschen mit Demenz feiern gerne, auch wenn sie den aktuellen Anlass vergessen haben. Muttertag und Vatertag stehen gerade wieder vor der Tür. Bei dieser Gelegenheit wünsche ich mir auch einen Tochtertag. Warum das so ist, lesen Sie in diesem Artikel.

Demenz Muttertag

Muttertag und Demenz: Liebe Mutter, wo kann ich Dich finden?

Auch wenn die Mutter die erste große Liebe eines Kindes ist, kann auf dem Weg ins Erwachsenenleben ziemlich viel schief gehen. Immer wieder kommen erwachsene Töchter und Söhne zu mir in die Beratung oder ins Coaching und sagen: „Jetzt, wo sie eine Demenz hat, möchte (oder muss) ich mich kümmern. Aber wir hatten früher keine gute Beziehung. Wie kann ich das schaffen?“

Wenn ich diesen Satz höre, frage ich nach: 

  • Wann ist ihre Mutter geboren? 
  • Wie alt war sie bei Kriegsende?
  • Welche Erfahrungen hat sie als Kind gemacht mit Flucht, Vertreibung, Bombenangriffen, Verletzung oder Tod von nahen Angehörigen?

Falls auch Ihre Mutter zwischen 1930 und 1945/46 geboren ist, gibt es eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie traumatische Erlebnisse bewältigen musste. Zwei drittel aller Kinder haben solche Erfahrungen gemacht, sagt Prof. Radebold. Ausführlich können Sie das in meinem Artikel über Kriegsenkel und Elternpflege lesen. Diese Erlebnisse, über die vielleicht niemals in Ihrer Familie gesprochen wurde, können die Beziehung zu Ihnen auf verschiedene Weise geprägt haben.

1. Traumatisierung: Wenn Ihre Mutter selbst traumatisiert ist, ist es ihr möglicherweise schwer gefallen, eine stabile und liebevolle Beziehung zu Ihnen aufzubauen und Sie haben Ihre Mutter eher als emotional distanziert, ängstlich, depressiv oder auch wütend erlebt. 

2. Überfürsorglichkeit: Wenn Ihre Mutter als Kind Gewalt oder Bedrohung erfahren hat, kann sie aber auch überfürsorglich und besorgt um Ihr Wohlergehen gewesen sein. 

3. Erziehungsmuster: Durch die Traumatiserung als Kind hat die Mutter möglicherweise Erziehungsmuster übernommen, die von Angst, Kontrolle oder Dominanz geprägt waren. 

Heute ist wissenschaftlich erforscht, dass sich dramatische Ängste und Sorgen auf die folgenden Generationen übertragen können. Das Kind kann dadurch selbst unsicher und ängstlich werden und oder im Gegenteil versuchen, so stark zu sein, dass es die Mutter beschützen kann. Vielleicht geht es Ihnen so wie vielen von diesen starken Kindern. Sie sind heute als Erwachsene häufig im sozialen Bereich tätig und können sehr gut erspüren, was andere Menschen brauchen.

In der Beschäftigung mit den Ereignissen der beiden Weltkriege nicht nur die historischen Fakten zu sehen, sondern auch die mit der eigenen Familie verknüpften Schicksale, hilft ein größeres Verständnis für die eigenen Eltern zu finden. Dabei kann es im Coaching gelingen, das Gefühl, hundertprozentig für das Wohlergehen der Mutter und/oder des Vaters verantwortlich zu sein, endlich loszulassen. Sie müssen und Sie können Ihre Mutter nicht „retten“. Vielmehr geht es darum, die Balance zu finden, zwischen dem, was Sie der Mutter zurückgeben möchten und dem, was Sie Ihrem eigenen Leben schuldig sind.

Während die Demenzerkrankung dazu beiträgt, dass diese verborgenen Traumata wieder an die Oberfläche kommen, beschleicht die Angehörigen das Gefühl, dass die Mutter mehr und mehr verloren geht . Sabine Bode, Autorin der Bücher „Die vergessene Generation“, „Kriegsenkel“ und „Frieden schließen mit Demenz“ spricht in einem Interview mit Marcus Klug über den Zusammenhang von Kriegstraumata und Demenz und wie sich diese Beziehung sich letzendlich verbessern kann . 

Meine 1940 geborene Mutter begann plötzlich, alte Geschichten (die bisher immer ein bisschen lustig waren), ganz neu zu erzählen. Es war, als hätte die Demenz einen Schleier gehoben. Oft sind wir in der Anfangsphase ihrer Erkrankung mit dem Auto durch die Lausitz gefahren, an Orte, die sie sehr liebte. Gespräche im Auto haben einen besonderen Zauber. Man bewegt sich in die gleiche Richtung ohne sich mit einem Gegenüber zu konfrontieren. Und während die Fahrerin scheinbar ganz auf den Verkehr konzentriert ist, kann die Beifahrerin erzählen, was ihr auf der Seele liegt. „In diesem Haus war 1945 die Sammelstelle für Männer, die in Gefangenschaft kamen, auch mein Vater. Als er zurückkam, war er einfach nur noch alt … In jenem Haus haben Nachbarn gewohnt, bei denen die Oma (ihre Mutter) übernachtet hat, wenn sie Angst vor den Sowjets hatte, die bei uns einquartiert waren … Als Oma nach G. gefahren ist, hat sie mich mitgenommen als Schutzschild … Wenn wir Essen holten, machten sich die Soldaten einen Spaß daraus, uns Kindern das Gewehr an die Stirn zu drücken …“ 

Ich bin meiner Mutter dankbar dafür, dass sie mir diese Geschichten noch erzählt hat. Nicht nur, weil ich erahne, dass so manches Trauma auch in meinen Genen steckt und ich weiß, dass ich gut daran tue, diese Baustellen rechtzeitig zu bearbeiten. Das werde ich ihr am Muttertag sagen, auch wenn sie es kognitiv nicht verstehen wird. Ich hoffe, sie spürt meine Dankbarkeit.

Vor allem helfen mir diese Geschichten zu verstehen, welche Erinnerungen gerade wieder präsent werden, wenn meine Mutter, die inzwischen völlig in ihrer eigenen Realität lebt, ängstlich ist, Männern unter ihrem Fenster rufen hört oder wenn sie auf der Suche nach ihren Eltern ist.

Vatertag: Lieber Papa, das hätte ich Dich gerne noch gefragt

Vieles, was ich über die Mütter geschrieben habe, gilt gleichermaßen für Väter – so sie denn der Familie verbunden blieben. 

Eine Klientin, ich nenne sie mal Sabine, obwohl das nicht ihr richtiger Name ist, kündigte ihren Job in Hamburg und zog zurück nach Dresden, um ihren an Demenz erkrankten Vater zu Hause zu betreuen. Ihre jüngere Schwester, die ganz in der Nähe wohnte und Sabine wechselten sich mit der 24-Stunden-Betreuung ab. „Die Kleene“, sagt Sabine, „ist immer Papas Liebling gewesen. Ich lief nur irgendwie mit.“ Als Kind hat sie um die Anerkennung des Vaters gerungen. Später ist daraus eine Anti-Vater-Haltung geworden. Er war in der Partei – sie stellte einen Ausreiseantrag. Danach war viele Jahre Funkstille. Nach der Wende besuchte sie ihre Familie in Dresden hin und wieder, doch der Kontakt zum Vater blieb distanziert.

Erst als der Vater die mittlere Demenzphase erreicht hatte, fand er mehr und mehr Zugang zu seinen Gefühlen. Und er fand und zeigte die Zuneigung zu seiner älteren Tochter, mehr noch, sie wurde die wichtigste Person in seinem Leben, der er vertraute und deren Entscheidungen er respektierte. Rückblickend sagt Sabine: „Es war eine eigenartige Zeit. Wir führten immer wieder die gleichen, von außen betrachtet sinnlosen Gespräche. Ich ahnte, dass dahinter etwas stand, dass ihm wichtig war. Aber er hatte keine Worte mehr dafür.“

In unseren Gesprächen fand Sabine Worte für das, was ihr Vater nicht sagte. Sie lernte vermeidbare Situationen, in denen der Vater mit seiner Unruhe alle zur Verzweiflung brachte, zu unterscheiden von krankheitsbedingten Veränderungen. „Dank Dir haben wir manchmal eine Abkürzung genommen“, sagt sie,

„Im Coaching habe ich gelernt, auf Zeichen zu achten und nicht in jede Bredouille reinzurasseln. Aber am Wichtigsten für mich selbst war, zu verstehen, dass machmal keine Lösung gibt, dass es dann okay ist, Konfrontationen auszuhalten, auch wenn er nichts für seine Krankheit kann.“ Letztendlich gelang es ihr dabei, noch einmal einen anderen Blick auf ihre Kindheit zu werfen. Weil der Vater mehr von ihr erwartet hat, sie nicht so stark verwöhnt hat, wie die Schwester, hat sie einen stärkeren Eigensinn – einen Sinn für das Eigene – entwickelt, mit dem sie gut durchs Leben kommt.

Viele Fragen blieben offen und Sabine, die inzwischen wieder in Hamburg lebt, versucht heute anhand von geschichtlichen Dokumenten über die Flucht und Vertreibung ein Gefühl für die Antworten zu finden.

 

Warum es einen Tochtertag geben sollte

Lassen Sie uns Muttertag und Vatertag feiern. Freuen Sie sich, wenn Sie Ihre Eltern noch haben und genießen Sie das Zusammensein. Doch ich habe da so einen Idee:

Wenn es einen offiziellen Tochtertag gäbe, könnte die Sorgearbeit, die wir Frauen für unsere Familien leisten, endlich sichtbar werden. Einige Kulturen haben bereits einen speziellen Tag, der sich auf Töchter oder Frauen im Allgemeinen bezieht und der die Bedeutung von Bildung, Gleichstellung und Mädchenrechten betont.

Ein Tochtertag hierzulande könnte eine gute Möglichkeit sein, das Engagement der Töchter in der Familie zu feiern und anzuerkennen, welchen Wert die Beschäftigung der Töchter (und ja, auch der Söhne) mit den ewig langen Schatten der Weltkriege für unsere Gesellschaft hat. Den Eltern liebevoll zu begegnen, ohne sich zu verlieren oder zu verausgaben, kann eine wichtige Lernaufgabe und ein guter Grund für ein Coaching sein.

Immerhin gibt es jährlich am 12. Mai, also in diesem Jahr noch vor Muttertag und Vatertag, den Tag der Pflegenden. Doch den teilen sich dann die Menschen in den Pflegeberufen mit pflegenden Eltern, Partner*innen mit (Schwieger-)Töchtern und Söhnen. Wenn Sie den Spruch hören, dass Angehörige der „größte Pflegedienst der Nation“ sind, dann denken Sie daran, dass es zu 75 Prozent Frauen sind, die diese Sorgearbeit übernehmen. Ich finde, das sollten wir feiern. Heute. Und morgen. Und übermorgen. 

Für Frauen, die in diesem Monat ein Coaching buchen, gibt es dazu ein Überraschungspäckchen, egal ob Tochter, Schwiegertochter, Schwester oder Partnerin. Sie haben sich das verdient.