Am liebsten Zuhause!
Am liebsten von der Tochter! Oder eben der Schwiegertochter! In einer Studie der TK antworteten ca. 83 Prozent der Befragten, dass sie im Falle eigener Pflegebedürftigkeit zu Hause gepflegt werden wöllten. Tatsächlich werden schon heute mehr als 2 Millionen Menschen zu Hause gepflegt. Mehr als die Hälfte von ihnen wird ausschließlich (!) durch Angehörige – in der Hauptsache von Frauen – versorgt.
Aber wollen wir das? Und wollen wir das für unsere Töchter?
Angehörigenpflege ist weiblich und beginnt früher als Sie denken
Blättere ich durch die Aufzeichnungen zu meinen Beratungen in den letzten Jahren, stelle ich fest, dass Frauen viel häufiger Unterstützung suchen als Männer. Gefühlt ist das Verhältnis von Frauen zu Männern 80 zu 20 Prozent. Sollte ich weiter konkretisieren, würde ich die Zusammensetzung der Gruppe der Ratsuchenden folgendermaßen beschreiben:
- 55 % Frauen im erwerbsfähigen Alter
- 5 % Männer im erwerbsfähigen Alter
- 25 % Frauen im Rentenalter
- 15 % Männer im Rentenalter.
Neugierig geworden suche ich nach Studien, die zeigen, wie es tatsächlich ist.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) stellte fest, dass private Pflegearbeit mehrheitlich von Frauen geleistet wird, die über 50 Jahre alt sind. Ihr Anteil an den Befragten beträgt rund 30 Prozent. Bei den Männern sind es dagegen rund 22 Prozent.
Ein Gutachten des Sozialverbandes SODV aus dem Jahr 2019 kommt zu folgendem Ergebnis: „68 Prozent sind weiblich, 73 Prozent verheiratet und der größte Anteil der Pflegenden ist zwischen 55 und 64 Jahre alt.“
Im Moment finde ich keinen zahlenmäßigen Beweis, für mein Gefühl, dass Männer vor allem dann Pflege übernehmen, wenn sie selbst nicht mehr im Berufsleben stehen. Sollten Sie eine entsprechende Quelle kennen, würde ich mich sehr über eine Information dazu freuen.
Hilfst du noch oder pflegst du schon?
Spannend ist für mich auch die Frage, ab wann fühlen sich Menschen als „pflegende Angehörige“? Dazu finde ich keine allgemeingültige Definition. Denn die Spanne der übernommenen Aufgaben ist weit.
Sollten wir es am Pflegegrad festmachen? Doch was ist dann mit all denen, die sich vor der Begutachtung durch den MDK scheuen? Und mit denen, die sich einfach durchwurschteln, weil sie ihre Rechte nicht kennen. Ganz zu schweigen von jenen, wo laut Einschätzung des Medizinischen Dienstes der Hilfebedarf nicht anerkannt wird.
Oder wollen wir es an der Übernahme körperlicher Pflege festmachen? Das würde bedeuten, dass wir all jene übergehen, die Menschen mit Demenz versorgen und in erster Linie deren Alltag strukturieren und die Betroffenen vor Selbst- und Fremdgefährdung schützen.
Und was ist mit all jenen Angehörigen, die regelmäßig dabei unterstützen, dass Post, Wäsche, Einkäufe und Mahlzeitenversorgung gesichert sind?
Was wir von den Männern lernen können
Dazu passt die Einschätzung des Ärzteblattes 2019. Es stellt fest, dass es erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen soziökonomischen Studien gibt. Diese Abweichungen seien ein Hinweis darauf, dass Pflege oft mit hohem zeitlich oder physisch Engagement assoziiert wird. Wer also nur wenig oder nur vorübergehend Pflegeaufgaben übernahm, fühlte sich offensichtlich in den Befragungen nicht angesprochen. Ein erheblicher Anteil pflegender Angehöriger sei sich der Rolle vermutlich gar nicht bewusst.
Der bayerische Landesfrauenrat bestätigt eine weitere Beobachtung. „Während Frauen generell mehr Pflegeaufgaben vollständig alleine übernehmen und weniger aus dem professionellen oder informellen Bereich unterstützt werden, organisieren Männer die häusliche Pflege anders. Sie sehen sie stärker als ein Projekt an, bei dem Probleme durch eine rational-technische Herangehensweise gelöst werden können.“
Liebe Frauen, ich finde, hier können wir uns einiges von den Männern abgucken!
Angehörigenpflege gefährdet Ihre Gesundheit
Sie finden meine Überschrift gerade etwas krass? Gleichwohl: Im Fokus der ärztlichen Behandlung steht die pflegebedürftige Person. Doch was ist mit den Angehörigen, die im Spagat zwischen Beruf – Familie und Pflege ihre eigene Gesundheits- und Selbstsorge vernachlässigen?
Auch hier habe ich also ein bisschen recherchiert. Ausgangpunkt für meine Annahme war eine Befragung, die ich vor einigen Jahren selbst im Rahmen eines Projektes zur „Verbesserung der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Pflegeverantwortung“ mit zwei Kolleginnen in verschiedenen sächsischen Unternehmen durchführte. Dabei gaben 17 Prozent der Befragten an, aktuell oder in der Vergangenheit an Angehörigenpflege beteiligt zu sein. Wirklich betroffen machten uns dann die Angaben, wie viele Stunden wöchentlich gepflegt wurde. Dabei ermittelten wir Spitzenwerte von 30 Stunden – neben der Berufstätigkeit wohlgemerkt!
Warum Frauen pflegen
Auch sehr spannend ist die Frage nach dem Warum.
Ich glaube, dass vielen dieser pflegenden Frauen bewusst ist, dass sie in der Zeit der Angehörigenpflege immer wieder eigene Grenzen überschreiten – und dabei einfach funktionieren und zu wenig auf den eigenen Körper hören,
– weil es „jemand ja machen muss“,
– der Pflegebedürftige die Pflege durch andere Personen ablehnt,
– weil andere Lösungen nicht zur Verfügung stehen oder nicht bekannt sind,
– weil Pflegende glauben, dass es von ihnen erwartet wird (dazu muss es unbedingt mal einen eigenen Blockbeitrag geben!)
– oder weil andere es einfach nicht richtig machen (okay, das wäre auch noch mal ein Thema).
Das kann doch nicht gesund sein, dachten sich wohl auch die Krankenkassen und gaben Studien in Auftrag, die die Gesundheit (oder sollte ich schreiben die krankheitsbedingten Kosten?) Pflegender untersuchten.
Verglichen mit gleichaltrigen, nicht pflegenden Personen, klagen Pflegende häufiger über Einschränkungen der körperlichen Gesundheit.
- Gelenk- / Rückenschmerzen
- geschwächtes Immunsystem
- Erschöpfung
Vor allem aber verursacht die Angehörigenpflege emotionale Belastungen. So fühlen sich 72 % der Befragten einer weiteren Studie psychisch stark belastet. Sie berichten unter anderem über
- Pessimismus
- Angstzustände
- Depressionen
- Zukunftsängste
Signifikant höher lag die Prozentzahl der erkrankten Personen, wenn Menschen mit Demenz gepflegt wurden. Dabei haben wir noch gar nicht über soziale Einschränkungen geredet, die daraus resultieren, dass Freunde seltener getroffen werden, Hobbys aufgegeben werden und Situationen mit negativen Gefühlen wie Scham oder Ekel verbunden sein können.
Weil Pflegende teilweise recht plötzlich und dann für lange Zeiträume vor erheblichen Herausforderungen und Belastungen stehen, sieht die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin pflegende Angehörige als eigene Patientengruppe der Allgemeinmedizin und rät, diese verstärkt zu beachten.
Angehörigenpflege selbst ist keine Krankheit – aber bitte, Frauen: Achtet auf Euch!
Egal ob selbstständig …
Als meine Mutter ihre Demenzdiagnose erhielt, habe ich meine Selbständigkeit aufgegeben und mich in einem Unternehmen anstellen lassen, um sozial abgesichert zu sein. Denn viele Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige – von kurzzeitiger Arbeitsbefreiung bis hin zur Reha für Pflegende – adressieren tatsächlich nur Angestellte.
Auch wenn immer wieder behauptet wird, dass Pflege eine gesellschaftliche Aufgabe sei – in diesem Kontext werden fast alle möglichen Szenarien auf das „unternehmerische Risiko“ der Selbständigen abgewälzt. Leider scheint es keine Studie darüber zu geben, wie viele Frauen (oder Männer) ihre Selbständigkeit aufgrund von Pflegeverantwortung aufgeben oder reduzieren.
… oder angestellt
Zu den Angestellten schreibt der Sozialverband Deutschland: „Von den Pflegeleistenden sind 2,7 Millionen Frauen und 1,8 Millionen Männer, was wiederrum den weiblichen Aspekt der Pflege betont. Besonders in den höheren Altersgruppen der 55-64-jährigen sind vorrangig Frauen im häuslichen Pflegekontext zu finden.“
Ich selbst habe dann später auch meine Arbeitszeit reduziert, um einen freien Tag pro Woche zu haben. Es war mir wichtig, meine Mutter weiterhin in ihrem eigenen Zuhause zu versorgen. Und damit stehe ich nicht alleine da. Wenn der Pflegefall eintritt, reduzieren 47 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeitszeit, meistens um 5 bis 10 Wochenstunden, 17 Prozent hören ganz auf zu arbeiten.
Eigentlich hätte ich Ihnen an dieser Stelle gerne noch eine Studie darüber präsentiert, wie viele Frauen einen Karriereknick hinnehmen (müssen), weil sie im Beruf nicht so präsent oder so flexibel sind, wie Personen ohne Pflegeverantwortung. Gefunden habe ich stattdessen folgende interessante Untersuchung: „Pro Beschäftigten mit Pflegeaufgaben betragen die betrieblichen Folgekosten 14.154,20 Euro im Jahr. Der größte Anteil dieser Kosten entfällt … mit 47,3 % auf die Folgen von Präsentismus. Das sind Kostenbelastungen, die entstehen, wenn Arbeitnehmende trotz Krankheit oder Erschöpfung an den Arbeitsplatz kommen und dadurch nicht voll leistungsfähig sind. Ein Produktivitätsverlust für das Unternehmen ist die Folge.“
Oder im Klartext: Als Pflegende sind Sie für Ihren Arbeitgeber nicht so leistungsfähig wie andere.
Angehörigenpflege macht arm
Wenn Sie den vorigen Abschnitt aufmerksam gelesen haben, ahnen Sie es schon. Wer den Beruf zugunsten der Familie zurückstelle, muss mit einem geringeren Einkommen und einer geringeren Rentenanwartschaft rechnen. Frauen, die pflegebedingt für sechs Monate aus dem Beruf ausgeschieden sind, haben perspektivisch durchschnittlich neun Prozent Lohneinbußen hinzunehmen.
Die unbezahlte Sorgearbeit benachteiligt in erster Linie Frauen. Addieren sich Sorgezeiten (erst die Kinder, dann die Eltern, dann die Schwiegereltern) kann sich das für Frauen logischerweise zu einer Armutsspirale entwickeln.
Gibt es auch mal etwas Positives zu berichten? Ja! Das Angehörigen-Entlastungsgesetz hat in Deutschland ab 2020 zumindest alle Angehörigen mit einem Einkommen von weniger als 100.000 Euro pro Jahr von der Verpflichtung entbunden, Eltern im Pflegefall finanziell zu unterstützen.
Sinkendes „Töchterpflegepotential“
Anfang der 2010er Jahre belegte ich Vorlesungen bei Prof. Erich Grond und hörte erstmals das Wortungetüm „Töchterpflegepotential“. Ein sinkendes Potential. Hatten in früheren Generationen Eltern viele Kinder und damit auch viele Töchter und Schwiegertöchter, so lastet in der Generation der Ein- und Zwei-Kind-Familie die Pflege oft auf den Schultern einer Frau, die sich im Ernstfall nicht nur um ihre eigenen Eltern sondern auch um ihre Schwiegereltern sorgen wird.
Pflegezeit ist Lebenszeit
Durch die höhere Lebenserwartung und die verbesserte medizinische Versorgung verlängert sich auch die Pflegezeit. Elternpflege dauert heute im Durchschnitt sieben Jahre – im Einzelfall jedoch viel länger. Damit erhöht sich die physische, psychische, soziale und finanzielle Belastung der Pflegenden.
Wünschen wir das unseren Töchtern? Geht es Ihnen wie mir, dann sind Sie stolz auf Ihre Kinder und freuen sich darüber, dass sie ihr Leben meistern. Nie im Leben käme ich auf die Idee, einer von ihnen – auch nicht meine Tochter – sollte mal seinen Beruf und seine Gesundheit für meine Pflege aufs Spiel setzen.
Neue Vorbilder sind gefragt
Gleichwohl sollten wir uns bewusst sein, dass wir Mütter immer noch Rollen-Vorbilder für die nachfolgenden Generationen sind. So wie wir es unseren Müttern größtenteils zu verdanken haben, dass wir Frauen nicht um unser Recht auf Berufstätigkeit kämpfen mussten, geht es heute darum die Rolle der Pflegenden neu zu definieren.
Im Idealfall stelle ich mir also vor, dass sich Söhne und Töchter gleichermaßen für die Pflege Angehöriger verantwortlich fühlen. Für mich bedeutet das, dass sie
– sich über die Erkrankung, Prognosen und Therapien gut informieren,
– wenn notwendig bestmöglich Pflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch entsprechende Dienste oder Technik-Lösungen organisieren,
– sich für unsere Beziehung so viel Zeit nehmen, wie sie wirklich möchten und wie uns beiden gut tut
– und dass sie vor allen Dingen gut auf sich selbst und auf ihre Gesundheit achten, denn sie selbst werden irgendwann mal Vorbilder für unsere Enkeltöchter und Enkelsöhne sein.
Wie können wir Frauen Angehörigenpflege noch besser managen?
Diesen Blog und diese Seite gibt es tatsächlich, weil ich mir wünsche, dass Frauen in der Pflegephase besser auf sich und ihre Bedürfnisse achten.
Und auch wenn es absurd klingt: Je besser Sie auf Ihre Bedürfnisse achten, um so besser können Sie Ihren Angehörigen pflegen.
Pflegezeit ist Lebenszeit.
Ihre Demenzberaterin
Schreiben Sie mir Ihre Ideen in die Kommentare. Wie können wir Angehörigenpflege besser machen?
Quellen:
- Statistisches Bundesamt 2015
- Forsa-Studie für den TK-Meinungsimpuls 2018
- https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-10/alterspflege-familienmitglieder-altersarmut-frauen-einkommen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com