Darf man als Demenzberaterin in einem Blog, der eine nicht heilbare, fortschreitende Erkrankung zum Thema hat, über sein Lebensmotto schreiben?
Zum neuen Jahr werden allerorten gute Vorsätze, Jahreslosungen und Löffellisten verkündet. Was eine Löffelliste ist, haben wir alle in dem großartigen Film „The Bucket-List – Das Beste kommt zum Schluss“ kennengelernt. Salopp gesagt ist es eine Liste mit Dingen, die wir erlebt haben wollen, bevor wir den Löffel abgeben.
Mein Motto ist mir schon im letzten Jahr zugeflogen während eines feinen kleinen Kurses über die Lebensreise eines Menschen, der voll mit lebensfrohen Neuro-Graphiken illustriert war.
Leben aus vollem Herzen
Bei einem so großen Motto schleichen sich bei mir sofort Bedenken ein. Ist das nicht ein bisschen unbescheiden und eine Nummer zu groß? Noch dazu für eine Demenzberaterin?
Hat man – habe ich überhaupt das Recht, aus vollem Herzen zu leben, während andere Menschen aufgrund ihrer Demenz-Erkrankung ihre Erinnerungen, ihre Alltagskompetenzen und ihr zu Hause verlieren? Während pflegende Angehörige darunter leiden, dass sie Mutter, Vater oder Partner*in nicht mehr verstehen und Zeit, Energie und Gesundheit opfern.
Bei der Gelegenheit ploppt in meinem Kopf eine Erinnerung auf an einen Vortrag, den ich vor einer Selbsthilfegruppe hielt zu Thema Demenz und Humor, ein Thema, das ich übrigens sehr liebe. In der ersten Reihe saßen zwei Damen, die mir mit Mimik, Haltung und vor allem sehr wortreich klarmachten, dass es beim Thema Demenz nichts zu lachen gibt. Beide pflegten ihre Ehemänner und hatten sich in die Aufgabe verbissen, alles perfekt zu machen, ohne dafür den erwarteten Lohn zu erhalten.
Aus vollem Herzen leben und Mut zur Unvollkommenheit haben
Eigentlich wollte ich schreiben: Mut, sich wichtig zu nehmen. Auf der Suche nach einem passenden Synonym (manchmal bin ich eben doch Perfektionistin und mag nicht, wenn etwas so hölzern klingt), habe ich festgestellt, dass „sich wichtig nehmen“ insgesamt sehr negativ besetzt ist. Ich lese: angeben, aufschneiden, sich in den Vordergrund schieben, aufspielen. Oha!
Und wie oft haben wir als Kinder, als wir selbst noch an unsere Vollkommenheit glaubten, den Satz gehört: „Nimm dich nicht so wichtig!“ (Herzlichen Glückwunsch, falls es bei Ihnen anders war.) Doch vielleicht ist diese sprachliche Fallgrube ein Grund dafür, dass sich pflegende Angehörige so sehr ins Zeug legen im Kampf gegen den unsichtbaren, heimtückischen und manchmal übermächtigen Gegner namens Demenz?
Und genau dabei kann das Leben aus vollem Herzen auf der Strecke bleiben – kämpfenderweise. Dabei ist es völlig normal, alles/vieles richtig machen und dem Angehörigen ein möglichst gutes Leben bereiten zu wollen. Solange es nicht auf Kosten der eigenen Energie und der eigenen seelischen und körperlichen Gesundheit geht.
Eine gesunde Grenze zu finden, heißt auch, sich mit dem Unvollkommenen, dem Unperfekten zu arrangieren.
✳️ Herr S. kocht sich Kartoffeln mit Haferflocken. Ja, und?
✳️ Frau L. stellt alle ihre Malsachen auf, um dann doch nicht zu beginnen. Ja, und?
✳️ Meine Mutter hat eine Zeit lang im Wohnzimmer auf dem Sofa geschlafen. Ja, und?
Natürlich könnte man jetzt Herrn S. Essen auf Rädern bestellen, Frau L. darauf hinweisen, dass sie nicht alles ausräumen müsse, wenn sie gar nichts malen wird. Und ich hätte mich jeden Abend auf den Weg machen können, meine Mutter ins Bett zu bringen. Doch um welchen Preis?
Wir können nicht (lange) so tun, als wäre alles in schönster Ordnung und als hätten wir alles im Griff. Wer das tut, fliegt früher oder später aus der Kurve! Aber wir können anfangen das Unperfekte zu lieben.
In der Kaufhalle suche ich mir mit Absicht die krummste Gurke und lege den Apfel mit der Schorfstelle nicht zurück, um mir selbst zu beweisen und mich immer daran zu erinnern, dass auch das Unperfekte einen Wert hat.
Noch besser kann das die amerikanische Sozialarbeiterin und Bestseller-Autorin Brené Brown, deren Auftritt auf dem TED (hier in youtube mit deutschen Untertiteln) mein Herz für die Unvollkommenheit geöffnet hat.
Passenderweise trägt Ihr Bestseller „Die Gaben der Unvollkommenheit“ den Untertitel Leben aus vollem Herzen. Sie selbst schreibt darin:
„Auch wenn du dieses Buch vermutlich in deiner Buchhandlung unter den Selbsthilfebüchern findest, bin ich mir nicht im Geringsten sicher, dass es bei diesem Buch um Selbsthilfe geht. Ich glaube vielmehr, dass es eine Einladung ist, sich einer Revolution anzuschließen, die für ein Leben aus tiefstem Herzen eintritt. Eine kleine, stille Basisbewegung, die damit beginnt, dass jeder von uns sagt: „Ich heiße ______. Meine Geschichte ist wichtig, weil ich wichtig bin.“
Aus vollem Herzen leben und Mut zu den eigenen Gefühlen haben
Ein Leben aus vollem Herzen hat unbedingt auch damit zu tun, dass ich Zugang zu meinem zu den eigenen Gefühlen zu finden.
🔅 Liebe und Freude gelten allgemein als erwünschte Gefühle.
Doch wie gehe ich mit all den anderen Emotionen um?
♨️ Trauer und Verzweiflung
♨️ Angst und Misstrauen
♨️ Ärger und Wut
♨️ Scham, Schuldgefühlen und Verletzlichkeit
In der Begleitung eines Menschen mit Demenz werden diese Gefühle früher oder später gute Bekannte. Es scheint so, dass ein Leben aus vollem Herzen gar nicht möglich ist, wenn wir sie tapfer ignorieren. Wer seine Trauer nicht zulässt, dem kommt auch die Liebe abhanden, wer seine Wut unterdrückt, verliert dabei auch die Freude. Kintsugi heißt die japanische Tradition, Zerbrochenes zu reparieren und mittels Goldlack zu etwas Wertvollem werden zu lassen.
Wahrgenommene Gefühle sind ein guter Wegweiser für unsere Bedürfnisse. Und ich traue mich an dieser Stelle einfach mal aufzuschreiben, dass es mich unendlich traurig macht, dass meine Mutter nach Schwiegerkindern, Urenkeln, Enkelkindern und Partnern auch meinen Bruder und mich zu vergessen beginnt. Die Trauer, die ich dabei empfinde, ist für mich kein „negatives Gefühl“, sondern ein Zeichen meines Wunsches nach Verbundenheit der Generationen und ein Zeichen dafür, dass ich gern ein liebevoller Mensch bin.
Mit Genuss habe ich mal wieder in Peggy Elfmanns Blog gelesen und den Satz gefunden:
„Wir können nichts gegen die Krankheit tun, wir können sie nur annehmen – und lernen, mit ihr zu leben.“
Im Artikel geht es um ihr Motto als pflegende Tochter. Auch Peggy hat das Streben nach Perfektion hinter sich gelassen und sich auf die mit der Begleitung eines Menschen mit Demenz, ihrer Mutter, eingelassen. Ihr Motto lautet „Es ist schon gut.“
Leben aus vollem Herzen und Mut zum Weiterdenken
Leben aus vollem Herzen bedarf für mich eines mutigen Blickes in beide Lebens-Richtungen – in die Vergangenheit zur Frage, wie meine Ahninnen (ich kenne meine beiden Großmütter, weiß aber fast nichts über meine Urgroßmütter) gelebt und die Welt erlebt haben. Daran forsche ich seit einigen Jahren.
Von alten Menschen mit Demenz wissen wir, dass sie bei fortschreitender Erkrankung zunehmend in ihrer Vergangenheit leben. Die alten Zeiten werden wieder präsenter. Und doch scheint es auch zwischen den alten Menschen und kleinen Kindern ein geheimnisvolles Band zu geben. Nie waren die Menschen in dem Demenzwohnbereich, in dem ich eine Zeit lang tätig war, präsenter als wenn eine Kollegin in Elternzeit mit dem Kinderwagen zur Tür hereinkam.
Leben aus vollem Herzen bedeutet für mich, so zu leben, dass ich hoffen darf, dass auch meine Kinder, Enkel und Urenkel (falls es mal so weit ist) ein gutes Leben haben können. So gesehen haben auch nachhaltiger Konsum, Verzicht auf Fleisch aus unwürdiger Massenproduktion und die Unterstützung von Umwelt-Projekten direkt mit einem Leben aus vollem Herzen zu tun.
Der Theologe und Soziologe Prof. Reimer Gronemeyer betont in vielen Vorträgen, welche gesellschaftliche Bedeutung die Demenzerkrankung in unserer konsumorientierten, schnell-lebigen, oberflächlicher werdenden Zeit haben kann.
Die schottische Künstlerin Katie Paterson hat 2014 das Projekt Future Library ins Leben gerufen. Einhundert Jahre lang stiftet jährlich eine bekannte Autorin oder ein Autor ein Buch, das bis 2114 ungelesen bleibt. Ein Buch für die Nachwelt, ein Buch, dessen Erscheinen und Erfolg Autor oder Autorin also nie erleben werden. Das erste Buch stammt übrigens von einer meiner Lieblingsautorinnen, Margaret Atwood und ich hoffe, meine Urenkel*innen werden es mögen. Leben aus vollem Herzen kann für mich auch heißen, aus vollem Herzen zu schenken ohne dass je eine Gegenleistung erfolgen wird.
Arno Geiger schreibt in seinem Buch „Der alte König in seinem Exil:
„Für meinen Vater ist seine Alzheimererkrankung bestimmt kein Gewinn, aber für seine Kinder und Enkel ist noch manches Lehrstück dabei.“
Leben aus vollem Herzen und Mut zur Selbstsorge
Nachdem das Schwierige gesagt ist, darf es leichter werden. Auch wenn Sie eine pflegende Angehörige sind, haben Sie das Recht – ach was sag ich, die Pflicht, gut für sich selbst zu sorgen.
Selbstfürsorge, der achtsame und vor allem freundliche Umgang mit sich selbst, hat so viele Facetten, dass ein einzelner Blogbeitrag dafür nicht ausreicht. Vielmehr ist es eine Lernaufgabe, die Monate, Jahre oder den Rest des Lebens benötigt. Und das ist nicht schlimm.
Nehmen Sie sich die Bereiche in kleinen Schritten nacheinander vor, ohne sich selbst schon wieder unter Druck zu setzten.
❔ Schlafen Sie ausreichend und gut?
❔ Bereiten Sie sich jederzeit gesunde Mahlzeiten zu und nehmen Sie sich genügend Zeit zum Essen?
❔Haben Sie genügend Bewegung und Zeit für das Genießen der Natur und der Jahreszeiten?
❔ Gibt es ausreichend Zeit für Verbundenheit mit anderen Familienmitgliedern?
❔ Können Sie Ihre Freundschaften pflegen?
❔Holen Sie sich Hilfe (egal ob es um ihre eigenen Fenster, die Wäsche Ihrer Mutter oder die Begleitung Ihres Angehörigen geht)?
❔ Haben Sie einen Menschen, mit dem Sie rückhaltlos über ihre Probleme sprechen können?
❔ Gehen Sie achtsam mit der eigenen Gesundheit um und nehmen Sie Vorsorgeuntersuchungen wahr und überspielen sie kleine Wehwehchen nicht?
❔ Erlauben Sie sich NEIN zu sagen, ohne eine Entschuldigung oder Begründung mitzuliefern?
❔ Würden Sie sagen, dass Sie sich selbst lieben?
Ich möchte Ihnen mit dieser Liste kein schlechtes Gewissen machen. Egal wie oft Sie gerade innerlich mit Ja oder Nein geantwortet haben, seien Sie gnädig mit sich selbst. Überlegen Sie was ein erster kleiner Schritt sein kann in die richtige Richtung.
Vielleicht machen Sie sich heute Abend genussvoll ein Rührei oder schicken der Freundin eine Nachricht, dass Sie gern mal wieder mit ihr Kaffee trinken würden.
Oder Sie nehmen ein Buch, dass Sie längst lesen wollten (am besten kein Fachbuch und erst recht keine Demenzlektüre!) und legen es einfach nur auf ihren Nachttisch. Vielleicht haben Sie im Moment keine Zeit oder Kraft zum Lesen. Dann lassen Sie es einfach ein Zeichen dafür sein, dass bald dafür bereit sein werden.
Nähren Sie Ihre Selbstfürsorge, damit Sie nicht eines Tages bei einem Vortrag über Humor und Demenz in der ersten Reihe sitzen und erklären, Freude und Pflege seien unvereinbar.
Mut zum Leben aus vollem Herzen
Ich hoffe, ich habe Ihnen Lust und Mut gemacht auf ein Lebensmotto, dass sich erst einmal eine Nummer zu groß anfühlt, in das man mit gutem Gewissen und Lebensfreude hineinwachsen darf.
Und natürlich gehört zu einem Leben aus vollem Herzen auch eine Bucket-List, eine Wunschliste mit Erlebnissen und Dingen, die das Herz und den „Energie-Tank“ wieder auffüllen.
Auf meiner stehen aktuell ein Neurographik-Kurs, eine Reise nach Lisabon, ein Besuch meiner amerikanischen Großcousine, 30 mal ins Kino gehen und mir jede Woche frische Blumen kaufen.
Auch darauf stehen die sorgsame Weiterführung meines Blogs und die Entwicklung eines Online-Kurses für Frauen, die ihre Mutter oder ihren Vater pflegen.
Meine Vision ist ein Leben aus vollem Herzen für uns alle, besonders für Menschen, die aktuell Pflegeaufgabe übernommen haben – aber auch für Menschen, die mit einer Demenzerkrankung leben. Weil das nicht immer einfach ist, gibt es mein Mutmach-Buch und Demenz-Beraterinnen.
Was steht auf Ihrer Wunsch-, Bucket- oder Löffelliste? Schreiben Sie es gerne in die Kommentare!
Ein sehr schöner Artikel. Vielen Dank dafür. Für mich schließen sich Humor und Demenz ebenfalls nicht aus. Es ist einfach schön zu sehen welch Freude eine liebe Angehörige hat wenn wir gemeinsam in einem alten Bildkalender blättern. Bilder betrachten aus einer Region in der sie mehrmals im Urlaub war. Und dieser Kalender darf ganz sicher nicht zum Altpapier. Auf meiner Liste für dieses Jahr steht ganz oben die gemeinsame Freude und das miteinander Lachen.
Liebe Rose, tatsächlich sind die meisten Menschen dankbar für ein bisschen Humor. Das ist auch meine Erfahrung. Nur die Perfektionisten haben es da etwas schwerer. Ich sehe Euch da richtig sitzen und blättern. Mit meiner Mutter wird es gerade schwieriger. Ihr kommt alles unbekannt vor. Aber sie genießt das Zusammensein. LG Eva